Wir Weicheier?

Neulich war ich nach längerer Zeit wieder einmal mit der U6 unterwegs. Schon in der Station warnt mich ein knallig buntes Plakat vor dem „Tatort Leberkäse“. Während der Fahrt erklärt es mir dann eine freundlich monotone Tonbandstimme noch einmal: Essen ist in der U6 nun verboten. (Seit 1.09. gilt das für die U6, ab Jänner 2019 dann für alle Linien.)
Eigentlich könnte mir das egal sein. Als Vegetarierin esse ich nie (nirgends) Leberkäse oder Kebap. Außerdem esse ich gerne in Ruhe und in entspannter Atmosphäre – eine vollgerammelte U-Bahn ist also nicht mein bevorzugter Speiseort.
Trotzdem, das neue Verbot (und die Art wie es kommuniziert wird) beschäftigt mich. Weil es mir bezeichnend erscheint. Weil ich mich, wieder einmal, frage: Hat Robert Pfaller recht?

Robert Pfaller, ein von mir sehr geschätzter österreichischer Philosoph, postuliert: Unsere Gesellschaft wird immer infantiler. Anstatt uns wie Erwachsene, wie mündige Bürger und Bürgerinnen zu behandeln werden wir infantilisiert. Wir werden mit Nichtigkeiten und Halbwahrheiten abgespeist, werden bevormundet, werden auf oberflächliche Befindlichkeiten reduziert. Kurz, wir werden wie Kinder behandelt und damit dazu gebracht, uns auch wie Kinder zu verhalten. In den Worten Pfallers: „Je härter die Verhältnisse werden, desto mehr werden wir wie Weicheier behandelt. Wahrscheinlich damit wir nicht auf den Gedanken kommen, uns gegen die Verhärtung der Verhältnisse zu wehren.“
Während Arbeitsmärkte und Finanzwesen dereguliert werden, wird der öffentlich Raum, der Raum des sozialen Miteinander, immer mehr durch Verbote, Gebote und omnipräsente Warnhinweise reguliert.
Unseren persönlichen, momentanen Befindlichkeiten wird oberste Priorität eingeräumt. Selbst kurzfristiges Unwohlbefinden (etwa durch als unangenehm empfundene Gerüche), so wird uns gelehrt, ist uns nicht zumutbar. Werden wir einmal nicht mit Glacéhandschuhen angefasst (etwa durch eine Wortwahl, die uns nicht entspricht), sind wir geradezu dazu verpflichtet sofort zutiefst verletzt und beleidigt zu sein. „Die Unterwerfung des öffentlichen Raums unter die Kriterien persönlicher Empfindlichkeit – die Fähigkeit, sich verletzt zu fühlen, und den Zwang dies sofort kundzutun – ist die stärkste Ressource zum Abbau von bürgerlicher Teilhabe und Politikfähigkeit“, konstatiert Pfaller.
Von Erwachsenen kann man erwarten, dass wir auch mal was aushalten können. Dass wir in der Lage sind, erwachsene Distanz zu unseren ureigenen momentanen Befindlichkeiten zu wahren. Dass wir selbstständig entscheiden können, welches Verhalten angebracht ist. Wir aber werden wie Mimosen behandelt, denen alles unzumutbar ist. Und werden damit geschickt von all dem abgelenkt, was uns, über unsere kindlichen Köpfe hinweg, tatsächlich zugemutet wird. So kommen wir, wie Pfaller argumentiert, gar nicht erst auf die Idee, uns gegen neoliberale Entwicklungen zur Wehr zu setzen, uns zu solidarisieren und etwas gegen die „zunehmende Beraubung im Großen“ zu unternehmen.

Robert Pfaller ist bei weitem nicht der einzige kritische Denker – wenn auch sicher einer der polemischten – der zu diesem Schluss kommt. Sind wir durch Politik, durch Werbe- und Konsumindustrie tatsächlich so dressiert, dass uns erwachsene Tugenden wie Geduld, Dinge aushalten oder sich zurücknehmen völlig abhandenkommen? Werden wir tatsächlich „zu einer bloßen Befindlichkeits-, Beleidigungs- und Verletzlichkeitsmaschine herabgestuft“?
Auch in der U6 gilt doch wohl, um bei diesem Beispiel zu bleiben: Wir sind erwachsene Menschen und bewegen uns im öffentlichen Raum. Sollten wir nicht selbst einschätzen können, ob unser Essen vielleicht jemanden stört? Vielleicht könnte man höflich sein und den Sitznachbarn einfach fragen. Vielleicht könnte man als Nicht-Esser einfach darüber hinwegsehen und zwei Stationen Ungemach ertragen. Vielleicht könnte man uns zutrauen, unseren (Essens-)Mist zu entsorgen, anstatt das potenzielle Verursachen gleich präventiv zu verbieten.
Ich weiß schon, das Verbot ist das Resultat einer Fahrgastabstimmung, finde aber das ändert nichts. Ja, man könnte sogar argumentieren, das macht es noch schlimmer. Wir trauen uns ja offenbar schon selbst kein Erwachsenenverhalten mehr zu. Wir bitten ja schon selbst darum, dass uns präzise Verbote die Entscheidung abnehmen, wie wir uns verhalten sollen.
Denkt man das Essverbot aufgrund störender Gerüche konsequent weiter, kann der nächste logische Schritt nur heißen: Deo-Gebot in allen U-Bahnen, zumindest während der Sommermonate. Aber, Achtung: Sprühmenge und Duft müssen ebenfalls beachtet werden. Es soll sich schließlich niemand durch ausgefallene Duftnoten gestört fühlen. Ich bin schon neugierig auf die Plakate. „Vorsicht Schweißfahrer“ vielleicht?

Weitere Beispiele für eine Infantilisierung unserer Gesellschaft gibt es zur Genüge. Für Robert Pfaller ist es vor allem auch die Sprache, genauer die Political Correctness, die einen wesentlichen Beitrag dazu leistet. Auch wenn ich eine Befürworterin eines sorgsamen Umgangs mit Sprache bin, auch wenn ich durchaus für eine geschlechtergerechte Sprache (zumindest in vernünftigem Ausmaß) eintrete – so muss ich Robert Pfaller in einigen Punkten recht geben. Wir essen zwar jetzt einen Schokogugelhupf mit Schlag anstatt eines Mohren im Hemd – Rassismus und Xenophobie aber nehmen immer weiter zu. Wir Frauen sind zwar jetzt Frau Doktorin und Frau Magistra – stoßen aber nach wie vor an eine gläserne Decke aus Panzerglas und verdienen weniger als der Herr Magister. Eine Sprachpolitik, die vorgibt, es gehe in erster Linie darum nur ja niemanden zu beleidigen, kann sehr effektiv von den tatsächlichen Problemen ablenken.

Für mich sind Robert Pfallers Thesen erschreckend und beängstigend. Weil ich finde, er hat recht. Wer kann denn ehrlich leugnen, dass es unserer Gesellschaft an Zivilcourage, Solidarität und mutig-mündigen Erwachsenen mangelt? Ich jedenfalls möchte bitte nicht wie ein Weichei behandelt werden (weil ich ganz einfach keines sein will.) Ich möchte lieber, wie Pfaller vorschlägt, Politiker, die sagen „erstens sterbt ihr sowieso (aber diese Nachricht ist für euch als Erwachsene weder neu noch unzumutbar). Und darum lasst uns zweitens dafür sorgen, dass wenigstens das, was davor kommt, ein Leben ist.“

Lektüre zum Thema:

  • Robert Pfaller, Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur (Frankfurt am Main 2017).

Martina Nothnagel