Muße – Mein rebellisches Vorhaben für das neue Jahr

Auch ich habe mir für das neue Jahr etwas vorgenommen: Ich möchte (mehr) Muße in mein Leben einführen. Ein durchaus herausforderndes Vorhaben, wie ich mittlerweile einsehen muss. Muße, das klingt so süß wie verpönt. So verlockend wie fremd. Was hat es auf sich mit diesem jahrtausendealten Konzept? Warum ist Muße heute so schwer zu erlangen und was ist damit zu gewinnen?

Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, einer Leistungsgesellschaft, einer Beschleunigungsgesellschaft. Arbeit und Leistung sind die zentralen Werte, die alles umfassenden Paradigmen unserer spätmodernen Gesellschaft. Soviel ist offensichtlich, egal welche dieser Perspektiven man wählt. Wir leisten nicht allein (in der) Erwerbsarbeit. Wir leisten außerdem Beziehungsarbeit, Erziehungsarbeit, Körperarbeit, Entspannungsarbeit. Was auch immer wir anstreben – Wohlstand, soziale Anerkennung, ein Gefühl von Selbstwert, von Sinnhaftigkeit, von Glück – scheint allein über Arbeit und Leistung erreichbar.

Natürlich sind wir nicht immer emsig und effizient. Wir sind auch mal faul und träge, wir „zahn obe“ und prokrastinieren. Jeder kennt es, jeder tut es. Manche mehr, manche weniger. Fast immer aber mit dem schalen Beigeschmack eines schlechten Gewissens. Wir tun es, obwohl wir doch wissen, wir sollten es anders machen. Auch solche Praktiken bewerten wir anhand von Arbeit und Leistung. In diesem Fall eben durch deren Abwesenheit.

Zugleich sind wir nun wahrlich keine Gesellschaft der Seeligen. Stressbedingte physische oder psychische Erkrankungen greifen immer mehr um sich, die Opfer werden immer jünger. Gefühle von Unsicherheit und Unzulänglichkeit scheinen die kollektiv dominierenden Befindlichkeiten zu sein. Haben wir vielleicht etwas aus den Augen verloren? Könnte uns die Revitalisierung eines Stückes verlorener Lebenskunst guttun? Ich glaube, für mich persönlich könnte das in der Tat so sein.

Das Wesen der Muße
Muße ist nicht Faulheit oder lustloses Trödeln, kein Zeichen von Willensschwäche. Muße ist nicht Langeweile oder simple Zerstreuung. Sie ist ebenso wenig die Rekonvaleszenz nach der Überarbeitung. Muße finden wir in exakt jenen Momenten, die ihren Wert in sich selbst tragen, die keiner Leistungs- und Effizienzlogik unterworfen sind. Muße ist eine Herangehensweise, ein Zeit- oder auch Lebensgefühl. Ich kann nicht Muße tun, ich kann aber die unterschiedlichsten Dinge mit Muße tun. Wann immer ich eine Sache um ihrer selbst willen tue, ohne an (Leistungs-)Ziele, optimale Nützlichkeit oder bestmögliche Effizienz zu denken, dann ist das Muße.  Ich kann mit Muße ein Gespräch führen, ein Buch lesen, joggen oder kochen. Ich kann auch mit Muße arbeiten. Kurz: Was ich „normal“ tue, könnte ich theoretisch auch mit Muße tun (praktisch ist das dann wieder eine andere Sache…).

Das Gegenteil von Muße ist, wie der Soziologe Hans-Georg Soeffner feststellt, „nicht Arbeit, sondern Entfremdung.“ Wir könnten mit Muße arbeiten und produktiv sein. Wir können aber auch ganz und gar ohne Muße nicht arbeiten und nicht produktiv sein. Zerstreuung, Ablenkung, Reizüberflutung, Hyperaktivität in sozialen Netzwerken (wir leben schließlich außerdem in einer Informationsgesellschaft) – auch das ist nicht Muße. Es mag durchaus wohltuend das Wirbeln der Gedanken zeitweise beruhigen, Stress kurzfristig übertünchen, deshalb ist es aber nicht auch automatisch Muße.

Der Wert der Muße
Anders als heute, wo Geschäftigkeit und Stress zum guten Ton gehören, war Muße jahrtausendelang ein geschätzter und vor allem elitärer Zustand. Von der Antike bis in die frühe Neuzeit war sie das Vorrecht einiger Weniger. Die würdevolle, für kluges Handeln essentielle Muße der Denker und Staatsmänner der griechischen Antike, die vita contemplativa der christlichen Mönche, der ostentative Müßiggang der Adeligen – jahrtausendelang war Muße ein Privileg, ja sogar ein Statussymbol. Der Bedeutungswandel, den Arbeit, Leistung und Muße erfahren haben, ist offensichtlich eklatant, gilt heute doch das Leisten bis zur Selbstzerstörung als ganz besondere Auszeichnung.

Muße statt Leistung?
An kritischen Stimmen zu unserer gegenwärtigen Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft mangelt es nicht. Immer wieder werden Rufe nach „Entschleunigung“ laut, wird eine Abkehr vom Leistungsparadigma eingemahnt. Auch die Tatsache, dass Muße über so lange Zeit hinweg als Privileg galt, kann als Inspiration gelesen werden, diesem Konzept wieder (mehr) Wertschätzung entgegen zu bringen.
Allerdings erfordert es Anstrengung, Willenskraft und auch etwas Mut, sich gegen normative Werte zu stellen, sich dem rasanten Tempo unserer Lebenswelt (und sei es nur kurzzeitig) zu entziehen. Auch für mich erweist sich mein Vorhaben als Herausforderung. Wie sehr ich Leistung als zentralen Wert verinnerlicht habe, wie automatisch ich in flottem Tempo zu funktionieren versuche, wird mir erst klar, als ich probiere eine Alternative zu denken. Selbst wenn ich beim Schreiben keine Deadlines einzuhalten habe, auch wenn ich beim Laufen auf keinen Wettbewerb hintrainiere, wenn ich ein Buch nur aus persönlichem Interesse lese, wenn ich mir also eigentlich Raum für Muße geschaffen habe, selbst dann will sie sich oft nicht einstellen. Trotzdem werde ich weiter üben, weil ich davon überzeugt bin, es wird mein Leben bereichern. Der gegenwärtige Mangel an Muße ist allerdings, wie wir gesehen haben, nicht allein ein individuelles Problem. Es ist auch ein soziales, ein kollektives Problem, bedingt durch die Werte und Normen, die unsere Gesellschaft orientieren.

Die historische Betrachtung der Muße zeigt aber auch, dass es wohl nicht gut gehen würde, das Leistungs- schlicht durch ein Mußeparadigma zu ersetzen. Während früher eine kleine Oberschicht dem Müßiggang frönte, verrichteten all die anderen (Sklaven, Leibeigene, usw.), den Großteil der zum Erhalt der Gesellschaft nötigen Arbeit. Selbst privilegierte Müßiggänger hatten meist noch andere Aufgaben zu erfüllen. Auch unsere Welt würde in Chaos versinken, hätte jeder von uns den Anspruch, alles allein mit Muße zu tun. Ohne Leistungsvereinbarungen, klare Aufgabenverteilungen, einzuhaltende Zeit- und Arbeitspläne, verlässliche Produktivität wären weder Wirtschaft noch Gesellschaft funktionsfähig.
Ich persönlich finde es außerdem durchaus befriedigend etwas „zu leisten“. Ich möchte das ehrlich gesagt nicht missen. Ein kritisches Hinterfragen meiner/unserer Werte, bedeutet jedoch nicht zwingend, dass ich sie deswegen komplett verwerfen muss. Ich kann mich auch dafür entscheiden, mich ihnen lediglich nicht ständig und uneingeschränkt zu unterwerfen. Dazu möchte ich Muße in mein Leben einführen, als Ergänzung, als Ausgleich, als Korrektiv. Mal sehen, wie weit ich komme.

Lektüre zum Thema:

  • Hans-Georg Soeffner, Muße – Absichtsvolle Absichtslosigkeit. In: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hrsg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen. (Berlin/Bosten 2014), 34-45.

  • Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Mut zur Faulheit. Philosophicum Lech Bd. 21 (Wien 2018).

  • www.mussemagazin.de

Martina Nothnagel