Der Schatz in meinem Kopf - Eine Hommage an das Lesen

Ich gehöre zu einer seltenen Spezies. Offenbar ist mein Leseverhalten nicht „normal“. Aber gehöre ich auch zu einer aussterbenden Spezies? Wir leben heute, lesetechnisch in einer außergewöhnlich privilegierten Situation. Das dürfen wir nicht vergessen und schon gar nicht dürfen wir es verlieren.

Wenn ich lesen sage, meine ich hier das Lesen von Büchern. Gelesen werden auch Straßenschilder, Twitter-Meldungen oder Facebook-Beiträge. Auch diese Fähigkeit ist eine wichtige Kulturtechnik, keine Frage. Heute geht es mir aber um etwas anderes: Um das Lesen von Büchern, den Genuss von Literatur. Um etwas, dem kulturpessimistische Dystopien gerne das nahende Ende prophezeien.
Noch gibt es aber viele Menschen, die Freude daran haben, ein gutes Buch zu lesen und die Zeit finden, das auch zu tun. Menschen wie mich also. Oder vielleicht nicht ganz wie ich. Mein Leseverhalten scheint vergleichsweise exzessiv (obsessiv?) zu sein. Wie ich gerade ausgerechnet habe, lese ich, grob überschlagen, etwa 130 bis 150 Bücher im Jahr. Romane und Sachbücher zusammengezählt. Das ist nicht „normal“ wie mich eine Studie aus dem Jahr 2010 belehrt: Die Menschen in Österreich lesen durchschnittlich 32 Minuten am Tag und 11,2 Bücher pro Jahr. Selbst wenn diese Daten nicht mehr ganz aktuell sind, im Durchschnitt liege ich vermutlich weiterhin nicht. Letztlich sind solche Zahlen auch irrrelevant. Meine Begeisterung teilen viele, das weiß ich aus Erfahrung.

Die Möglichkeit Bücher zu lesen ist heute eine Selbstverständlichkeit. Viele nutzen sie praktisch, für andere besteht sie mehr theoretisch, selbstverständlich ist sie aber für (fast) alle von uns. Allerdings, wieder einmal gilt: Was uns heute banal erscheinen mag, ist historisch betrachtet eine sehr junge Errungenschaft. Eine allgemeine Alphabetisierung besteht hierzulande erst seit ca. 1900. Anfang des 20. Jahrhunderts konnten die Menschen schließlich so gut lesen, dass etwa zwei Drittel der Erwachsenen zumindest gelegentlich Unterhaltungsliteratur konsumierten. In all den Jahrhunderten zuvor war lesen das Privileg einer kleinen Elite, ein Vorrecht der Gebildeten und Wohlhabenden – und zeitweise nicht einmal von ihnen.

Eine elitäre Angelegenheit
In der römischen Antike war es noch relativ gut bestellt um die Literarität. Lesen und schreiben zählten im Römischen Reich zu den Alltagskompetenzen von Männern und Frauen der Oberschicht. Aber auch zahlreiche gebildete Sklaven konnten lesen (und schreiben). Literatur war ein geschätztes Kulturgut, lesen eine essentielle Kulturtechnik.
Mit dem Niedergang des Römischen Reiches hatte diese Form der Bildung – und deren Wertschätzung – für lange Zeit ein Ende. Bis ins 12. Jahrhundert waren es nahezu ausschließlich Priester und Mönche (einige, keineswegs alle von ihnen), die die Kunst des Lesens beherrschten. Das gemeine Volk bestand aus Analphabeten, genau wie die weltliche Oberschicht. Selbst Kaiser und Könige konnten oft nicht lesen. Derartiges wurde delegiert. Man sieht, die Prioritäten waren anders gelagert.
Erschwerend kommt hinzu: Die (geschriebene und gelesene) Sprache der Kleriker war Latein. Allein die lateinische Sprache galt als schreibbar. Wer also lesen und schreiben lernen wollte, musste zunächst Latein lernen. Erst im 16. Jahrhundert wurde es im deutschsprachigen Raum Usus, Deutsch, unabhängig vom Lateinischen, als Schriftsprache zu verwenden und zu lehren.

Zusätzlich zu einem seltenen Grad an Bildung war außerdem ein nicht unbedeutender finanzieller Aufwand erforderlich. Bücher waren teuer. Aufgrund der benötigten Materialen, aber auch weil ihre Herstellung so ungemein zeitintensiv war. Im Jahr 1400 beispielsweise schaffte ein eifriger Schreiber, der einen ästhetisch wenig anspruchsvollen Text, geschrieben in gotischer Minuskel, kopierte, etwa 180 bis 200 Wörter pro Stunde. Zur Veranschaulichung: Um ein weiteres Exemplar eines 440 Seiten umfassenden modernen Buches herzustellen, hätte er rund 750 Stunden benötigt.

Bücher, wie wir sie aus Zeiten vor ebooks kannten, verdanken wir Johannes Guttenberg (Gensfleisch) und seiner Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Metall-Lettern in der Zeit um 1445/1450. So revolutionär diese Erfindung auch war, ihre Verbreitung war ein langsamer Prozess. Keineswegs wurden damit sofort überall Druckmaschinen angeworfen und alle nur erdenklichen Bücher gedruckt. Schätzungen zufolge waren bis 1500 gerade einmal 10 Prozent der vorhandenen literarischen Werke gedruckt.
Nach wie vor war lesen außerdem eine Frage der Bildung und des Geldes. Zwar waren immer mehr Menschen in der Lage zu lesen und zu schreiben, aber grundsätzlich lesefähig oder habituell lesend zu sein, sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Einen Text entziffern zu können und Literatur als selbstverständlichen Bestandteil des Alltages zu betrachten, ist nicht dasselbe. Für das Jahr 1500 wird die Zahl der regelmäßig Lesenden auf etwa zwei Prozent der Bevölkerung geschätzt. Bis 1600 hatte sich die Zahl immerhin verdoppelt, nun waren es schon ganze vier Prozent.
Und auch für gedruckte Bücher galt: Man musste wohlhabend sein, um sich das Lesen leisten zu können. Immer noch waren Bücher teuer. Ein umfassender Barockroman beispielsweise kostete im 17. Jahrhundert das Monatsgehalt eines mittleren Beamten.
Die meisten Menschen lasen und besaßen, wenn überhaupt, primär religiöse Texte. Bibeln und Gebetsbücher wurden über Generationen vererbt und immer wieder gelesen. Der Gedanke, ein Buch lediglich einmal und allein um des Vergnügens Willen zu lesen wäre ihnen geradezu absurd erschienen.

Suchtgefahr
Lesen als Hobby. Bücher als lustvoller Zeitvertreib, als freiwilliges Vergnügen. Manche Bücher nur einmal lesen. Romane aus Spaß an der Sache lesen. – Dieses „moderne“ Lesen hat seinen Ursprung erst im 18. Jahrhundert. Damals entdeckte das wohlhabende und gebildete Bürgertum das Lesen für sich. Beliebte Lektüre waren nun Sachbücher und politische Literatur (bei Männern) und Romane (bei Frauen).
Interessanterweise (vielleicht auch bezeichnenderweise) wurde belletristische Literatur im 18. und 19. Jahrhundert überwiegend von Frauen gelesen. Man(n) sah das durchaus kritisch. „Lesesucht“ war ein damals viel diskutiertes Phänomen. Suchtpotenzial wurde in erster Linie Romanen zugeschrieben, betroffen war also vor allem die weibliche Leserschaft. Lesen, so der Vorwurf, sei eine Verschwendung von Zeit und Geld. Noch fataler aber: Ehemals gute Hausfrauen würden über ihren Büchern den Haushalt vernachlässigen. Liebesromane könnten außerdem, Gott bewahre, erotische Phantasien der Frauen anregen. In Zeiten von Fifty Shades of „Mummy Porn“, können wir also festhalten: Es hat sich doch einiges getan seit damals.

Trivial gebildet
Zugleich wurde „hohe“ Literatur im 18. Jahrhundert ein wesentlicher Bestandteil der humanistischen Bildung. Ob sie das auch weiterhin bleiben wird, ist allerdings fraglich. Zweifel scheinen berechtigt angesichts unablässiger Bildungsreformen, deren Ziel offenbar ein Bildungssystem ist, das Qualifizierte ausspucken, nicht aber Gebildete hervorbringen soll.
Die damals etablierte und bis heute gültige Unterscheidung zwischen „hoher“ und „trivialer“ Literatur sehe ich persönlich nichtsdestotrotz kritisch. Goethes Werther beispielsweise verdankt seinen Erfolg nicht dem, was Literaturwissenschaftler heute darin finden, sondern der Tatsache, dass er einst als sentimentaler Liebesroman beim weiblichen Publikum ungemein beliebt war.
Ich bin außerdem der Meinung, es geht nicht darum ein Buch gelesen zu haben, es geht darum, was dieses Buch mit mir macht. Ich etwa habe nicht nur Flaubert, Tolstoi und Dostojewski (gerne) gelesen, sondern auch Candace Bushnell (für Unwissende: Die Autorin von Sex and the City sowie einer Reihe vergleichbarer Romane). Auch ihre Geschichten und Protagonistinnen haben mir wertvolle Denkanstöße zu Geschlechterrollen, Geschlechterbildern, Weiblichkeit und Feminismus geliefert. Meiner Bildung – verstanden im heute etwas altertümlich anmutenden Sinn von Reifung der Persönlichkeit und nicht als Kompetenzentwicklung und Ansammeln von selektivem Faktenwissen – war also auch diese „triviale“ Lektüre durchaus zuträglich.
Und außerdem: Nicht jedes Buch muss bilden. Lesen kann manchmal auch einfach nur Freude machen. Zumindest halte ich das so.

The End?
Wir leben heute in einer historisch außergewöhnlich privilegierten Situation. Wir (die überwiegende Mehrheit von uns) haben die Fähigkeit zu lesen. Wir haben Zugang zu Büchern (weil Bücher erschwinglich sind und Büchereiausweise sowieso). Wir haben die Freiheit der Wahl (weil keine Zensur uns unsere Lektüre vorscheibt oder verbietet). Das sollten wir wertschätzen. Das müssen wir bewahren.
Die düstere Prophezeiung vom Ende des Lesens mag übertriebener Kulturpessimismus sein, mit unseren Privilegien und Schätzen sollten wir trotzdem achtsam umgehen. Denn: Lesen kann uns Empathie lehren, es kann uns alternative Perspektiven eröffnen. Es kann uns zum Denken anregen, selbstständig und kritisch. Mit anderen Worten, es kann uns geben, was wir auch dieser Tage unbedingt nötig haben. Abgesehen davon macht lesen einfach Spaß.

Lektüre zum Thema:

  • Bodo Franzmann (u.a.), Handbuch Lesen. (München 1999).

  • Paul Konrad Lissmann, Bildung als Provokation.

Martina Nothnagel