Le Festival de Cannes – Been there, seen that!

Das ganze pittoreske Städtchen ein geschäftiges Treiben. Schick herausgeputzte Menschen tummeln sich im Schatten der Palmen. Eine wuchtige Limousine gleitet vorbei, zwei Motorradpolizisten bahnen ihr unter hektischem Einsatz von Trillerpfeifen den Weg. Im Hintergrund glitzert das türkisfarbene Meer, der weiße Sandstrand noch fast menschenleer am späten Vormittag. Ich nippe an meinem Espresso, entspannt und aufgeregt zugleich – die Croisette während der Filmfestspiele in Cannes! Welch ein Erlebnis! Das Festival de Cannes hat dabei aber sogar noch mehr zu bieten – eine dramatische Entstehungsgeschichte etwa.

Le Croisette – die Straße, an der ich gerade so gemütlich sitze – ist wohl eine der berühmtesten Promenadenstraßen der Welt. Auf der einen Seite Luxushotels und Edel-Boutiquen. Jimmy Choo, Prada, Dior, Versace – kein Name, der für Luxus und Glamour steht, der hier nicht vertreten ist. Auf der anderen Seite die Uferpromenade, beschattet von ausladenden Palmen. Dahinter weißer Sand und azurblaues Meer. Am Horizont Yachten in allen Größen und Ausführungen.
Die Croisette ist immer ein Erlebnis, ganz besonders aber jedes Jahr für zwei Wochen im Mai. Dann finden hier die berühmten Filmfestspiele statt, quillt Cannes über vor Stars, Filmbegeisterten und Schaulustigen. Filme werden feierlich präsentiert. Regisseur*innen, Produzent*innen und Schauspieler*innen wetteifern um die Palme d´Or. Ausgewählt von einer internationalen Jury werden unter anderem bester Film, beste/r Hauptdarsteller*inn, bestes Drehbuch und beste Regie mit dem begehrten Preis prämiert.
Beim Festival de Cannes geht es um ehrliche Kunst aber auch um Sehen und Gesehen werden, um Glitzer und Glamour. Seinen Anfang aber nahm dieses schillernde Spektakel in einer von Europas dunkelsten Zeiten.

Il Duce und der Führer
Alles begann vor 71 Jahren mit der Wut – und der daraus geborenen Vision –  eines einzigen Mannes. Phillippe Erlanger, Generalinspektor für Erziehung in Frankreich, Journalist, Kunstkritiker und Historiker besuchte 1938 die Filmfestspiele in Venedig. Er sollte dort, so sein Auftrag, Kontakte knüpfen und Möglichkeiten zur Forcierung des internationalen künstlerischen Austausches sondieren. Das Problem dabei, um Kunst ging es dort nicht wirklich, wie sich zeigen sollte.

La Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica, das venezianische Filmfestival, war 1932 von Benito Mussolini als weltweit erster internationaler Wettbewerb dieser Art ins Leben gerufen worden. Schon bald diese es – in Anbetracht des Gründers vielleicht kaum überraschend – weniger der Kunst, als vielmehr politischen Interessen.
So auch 1938: Eigentlich war die Entscheidung der Jury klar, ein amerikanischer Film sollte der Gewinner der diesjährigen Filmfestspiele sein. Eine Wahl, die die faschistischen Machthaber Italiens und Deutschlands wenig begeisterte. Unter dem Druck von Duce und Führer sahen die Gewinner letzten Endes deutlich anders aus: Der Preis (heute der Goldene Löwe, damals die sogenannte Coppa Mussolini) ging an einen italienischen Film, der die Invasion Italiens in Äthiopien glorifizierte (und bei dem zudem Mussolinis Sohn mitgewirkt hatte) sowie an Leni Riefenstahls Olympia, ein Werk über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Letzterer war nicht nur ein nationalsozialistischer Propagandafilm, sondern darüber hinaus eine Dokumentation, die eigentlich gemäß der Richtlinien, gar nicht erst zur Teilnahme hätte zugelassen werden dürfen.
Im Publikum war die Empörung groß angesichts dieser Kunst und Demokratie spottenden Entscheidung. Die Delegierten aus Frankreich, den USA und Großbritannien verließen die Festspiele umgehend und mit der Erklärung, auch zukünftig nicht mehr daran teilnehmen zu wollen.

De France
Auch Phillippe Erlanger war schockiert, wütend, betroffen. Und fasste noch auf der Heimreise den Plan, ein französisches Filmfestival zu schaffen.  Ein Festival, das tatsächlich im Zeichen der Kunst und Demokratie stehen sollte. Auch in der französischen Regierung stieß diese Idee auf Wohlgefallen, vor allem der Kulturminister unterstützte Erlanger in seinem Plan: Bereits im Herbst 1939 sollte das erste französische Filmfestival stattfinden.

Der Veranstaltungsort war zunächst keineswegs klar. Die Rivalität war groß, zahlreiche französische Städte konkurrierten darum, Gastgeber sein zu dürfen. Schließlich fiel die Wahl auf Biarritz, eine Stadt an der baskischen Küste im Südwesten Frankreichs. Die Lobbyisten für Cannes (vor allem die Besitzer hiesiger Hotels) aber gaben sich nicht geschlagen.  Und konnten sich schließlich, quasi in letzter Minute, doch noch durchsetzen – ein Festival de Cannes also.

Vom Fischerdorf zum Glamour-Hotspot
Damals, 1938, war Cannes bereits ein mondäner Luxus-Urlaubsort, die Croisette bereits ein von Palmen beschatteter Pracht-Boulevard, gesäumt von Nobel-Hotels. Schwer vorstellbar, dass Cannes noch hundert Jahre zuvor nicht mehr gewesen war als ein kleiner, unbedeutender Fischerort. Ein schäbiges Dörfchen mit dunklen, engen Gassen – gelegen aber in einer zauberhaften Bucht.
Seine Entdeckung verdankt Cannes einem Engländer und der Cholera: 1834 musste Baron Henry Brougham and Vaux, der ehemalige britische Lordkanzler, eine Reise nach Italien unterbrechen, da dort die Cholera wütete. Der Baron strandete in Cannes, entdeckte den Charme dieses Ortes und machte auch zurück in England kein Geheimnis daraus. Nur wenige Jahre später war das Fischerdörfchen nicht mehr wieder zu erkennen. Nach den englischen Adeligen kamen russische Oligarchen – und dann die ganze Welt.

Erster Versuch
Nun wollte man hier außerdem im September 1939 die ersten Filmfestspiele Frankreichs veranstalten. Die Betonung liegt auf wollte, denn dieses Event sollte nie stattfinden.
1939 war die Welt kein Ort mehr für unbeschwerte Kunst und freundschaftlichen internationalen Austausch. Ein weiterer Weltkrieg schien immer unausweichlicher, ließ die Touristen fliehen, bescherte Menschen und Nationen andere Sorgen.
Auch wenn die geplanten Filmfestspiele nicht stattfinden konnten, zumindest eine kleine, private Filmvorführung wollte das Komitee, allen Widrigkeiten zum Trotz, abhalten. „Der Glöckner von Notre-Dame“ von William Dieterle sollte dabei präsentiert werden.

Aber auch diese minimierte Hommage an die Kunst des Filmes stand unter keinem guten Stern. Just am Tag der geplanten Vorführung – am 1. September – fiel Deutschland in Polen ein. Viele Gäste flohen, unter den Verbleibenden herrschte Angst und Verunsicherung. In Feierlaune war niemand mehr. Zwei Tage später, am 3. September 1939, begann offiziell der Zweite Weltkrieg.

Zweiter Versuch
Obwohl Erlanger es immer wieder versuchte – die Umsetzung seines Traumes erwies sich auch in den folgenden Jahren als undurchführbar. Tod, Vernichtung, Angst und Elend, von der politischen Situation ganz zu schweigen – ein Weltkrieg war keine Zeit für internationale Festspiele.
Am 20. September 1946 aber war es endlich so weit: Das erste Festival de Cannes fand statt! Ein großartiger Erfolg, ein würdiges Festival, unter den Teilnehmenden (und Gewinnern) Berühmtheiten wie Walt Disney, Billy Wilder, Jean Renoir und Alfred Hitchcock.
Trotzdem, ein paar Hürden galt es in den kommenden Jahren noch zu überwinden. 1948 und 1950 musste das Festival aufgrund finanzieller Schwierigkeiten abgesagt werden. Zu groß war die Konkurrenz anderer Events, wie beispielsweise der etwa zur gleichen Zeit veranstalteten Festspiele in Venedig. Erst als man die canneschen Festspiele in den Frühling verlegte – seither finden sie traditionell im Mai statt – wurden sie zu jenem berühmten, einzigartigen Event, das sie bis heute sind. 

Frauen von Cannes
Kunst, Glamour, Sehen und Gesehen werden in fantastischem Ambiente sowie gelegentliche Society-Skandale – das ist es wofür das Festival de Cannes heute steht. Letztlich ist aber auch das Glitzerevent an der Cote d´Azur nicht mehr als ein Teil der Welt, in der es stattfindet. Und damit keineswegs frei von Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten und Unfreiheiten.
Noch im 21. Jahrhundert dominiert hier eklatanter Sexismus. Der Dresscode ist streng, für Frauen gilt: Viel Haut, wenig Stoff. High Heels sind auf dem Roten Teppich obligatorisch. Mitunter wird Frauen aufgrund falscher – sprich flacher – Schuhe der Gang über den Roten Teppich verwehrt. Egal was frau geleistet hat, ohne halsbrecherisches Schuhwerk keine solche Anerkennung. Noch immer sind die Frauen in Cannes mehr Objekt als selbstbestimmte Künstlerin.
Das zeigen auch die Zahlen: Insgesamt 1688 Regisseure durften bisher am Wettbewerb um die goldene Palme teilnehmen –  82 davon Frauen. 71 männliche Regisseure gewannen schließlich den ersehnten Preis – zwei Mal war eine Frau die Gewinnerin.
Dieses Jahr entschlossen sich die Frauen von Cannes dagegen etwas zu unternehmen: 82 Frauen –  Schauspielerinnen, Regisseurinnen, in der Filmbranche Tätige – setzten mit einem Protestmarsch über den Roten Teppich ein Zeichen für Gleichberechtigung in der Filmindustrie, aber auch gegen Sexismus und Ungleichheit im Allgemeinen. Ob sie etwas bewirken konnten, wird sich zeigen – zumindest die Medienresonanz war groß.

Ich habe meinen Espresso mittlerweile ausgetrunken. Ausgeruht. Voller Tatendrang. Einziger Wermutstropfen: Die Socken – auch wenn´s keiner sieht – voller Sand, ich habe vorhin die Füße ins Meer gehalten. Egal, ich bin hier! Am Festival de Cannes!

Lektüre zum Thema:

  •  www.festival-cannes.com/en/69-editions/history
  • John Baxter, French Riviera and Its Artists. Art, Literature, Love, and Life on the Côte D'Azur. (New York 2015).
Martina Nothnagel