Kapitalismus? – Viel diskutiert, häufig kritisiert, aber nur selten erklärt

Ein System, in dem wir alle leben, tagein tagaus. Ein Phänomen, von manchen verteufelt, für andere höchst profitabel. Ein alltäglicher Begriff, von dessen konkreter Bedeutung viele aber nur eine vage Vorstellung haben. Ein guter Grund also, um nachzufragen: Was heißt das eigentlich genau, Kapitalismus? Was macht ihn aus, wie ist er entstanden und was war davor?

Heute ist der Kapitalismus ein nahezu globales Phänomen. Seine Expansion veränderte die Lebensumstände von Millionen Menschen grundlegend – ob zum Besseren oder zum Schlechteren, darüber scheiden sich die Geister: Die Kapitalismuskritik ist so alt wie der Kapitalismus selbst.
Zahlreiche große Denker, wie etwa Karl Marx oder Max Weber, haben sich eingehend damit befasst und kommen dabei zuweilen zu sehr unterschiedlichen Einsichten. Praktisch betroffen sind wir aber alle. Wie auch immer man dazu stehen mag – zustimmend, kritisch, gleichgültig oder ahnungslos – Fakt ist: Der Kapitalismus determiniert unser aller Leben.

Wirtschaft und ways of life
Was bedeutet das aber eigentlich, Kapitalismus? Schon im Grundverständnis muss man hier zwei Bedeutungen unterscheiden: Der Begriff Kapitalismus kann sowohl ein Wirtschaftssystem wie auch ein Gesellschaftssystem – eine Form der Lebensführung, einen way of life – bezeichnen.
Da Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur eng miteinander verwoben sind, leuchtet es ein, dass die Expansion eines Wirtschaftssystems auch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen kann (etwa in der Organisation der Gesellschaft, im Hinblick auf vorherrschende gesellschaftliche Werte und Normen usw.).
Damit dieser Text aber ein Blog-Beitrag bleiben kann (und nicht das Ausmaß eines Buches annimmt), möchte ich mich hier vorerst auf den wirtschaftlichen Kapitalismus beschränken.

Wirtschaftssysteme
Der Kapitalismus ist also ein Wirtschaftssystem. Eine Feststellung, die noch weitgehend unverfänglich ist. Versucht man aber eine darüberhinausgehende Definition zu formulieren, wird es deutlich komplizierter. Zum einen gibt es nicht nur die eine Form des Kapitalismus: Kapitalistische Wirtschaftssysteme können sehr unterschiedliche Formen und Ausprägungen haben – und zwar sowohl historisch, als auch in der Gegenwart.
Zum anderen kursieren unterschiedliche Auffassungen davon, welche charakteristischen Merkmale ein solches Wirtschaftssystem konkret auszeichnen.

Im Sinne einer allgemeinen Erklärung lässt sich Kapitalismus am ehesten folgendermaßen beschreiben:
Ein wesentlicher Faktor ist dabei zunächst Eigentum. Die Produktionsmittel (d.h. alles für die Produktion von Gütern erforderliche, wie Geld, Grund, Maschinen, Rohstoffe usw.) sind im Kapitalismus privates Eigentum. Sie sind also nicht im Besitz des Staates oder des Königs, sondern sind Eigentum von Unternehmern oder heutzutage via Aktien- oder Kapitalgesellschaften von privaten Anlegern.
Ein weiteres Charakteristikum ist der freie Markt, der das Wirtschaftsgeschehen, d.h. Produktion und Konsum, steuert. Angebot und Nachfrage bestimmen die Preise und das Ausmaß der Produktion. Das wiederum führt dazu, dass die Produzenten in ständiger Konkurrenz zu einander stehen.
Kennzeichnend für kapitalistische Systeme ist außerdem die Lohnarbeit als dominierende Form von Erwerbstätigkeit. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sind Arbeiter und Angestellte, die ihre Arbeitskraft gegen entsprechende Entlohnung verkaufen.
Zu guter Letzt ist das vorrangige Ziel im Kapitalismus stets die Maximierung von Profit, das Streben nach Gewinn die allgemeine Motivation.

All das mag nun manchen wenig außergewöhnlich erscheinen. Welche revolutionäre Neuerung der Kapitalismus aber bedeutete, wird im Vergleich mit anderen, historischen Wirtschaftsmodellen rasch deutlich.

Unfrei und ohne Eigentum
Wirtschaft (Tausch oder Handel) aber auch Profitstreben gab es wohl in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte, gewisse kapitalistische Elemente lassen sich in den meisten historischen Ökonomien ausmachen. Der moderne Kapitalismus, im eben definierten Sinn, tritt aber erstmals in Europa im 19. Jahrhundert auf. In regional und zeitlich unterschiedlichen Ausprägungen herrschte hier seit dem Frühmittelalter eine völlig andere Wirtschaftsform vor: Der sogenannte Feudalismus.

Die ökonomische Grundlage dieses Wirtschaftssystems ist die Landwirtschaft. Grundbesitz (landwirtschaftlicher Besitz) ist die Basis ökonomischer wie politischer Macht, ist aber – anders als die Produktionsmittel im Kapitalismus – kein Privateigentum. Das Land gehört nicht den Grundherren selbst, sondern dem Kaiser oder König, der es im Gegenzug für Loyalität und Gefolgschaft an seine Vasallen vergibt. Derartiges Land bezeichnet man als Lehen oder „feudum“ –  daher der Begriff Feudalismus.
Die Vasallen/Grundherren wiederum vergeben Land weiter an „untertänige“, unfreie Bauern, die den Boden für sie bearbeiten. Im Gegensatz zu Arbeitern in kapitalistischen Systemen sind diese Bauern keine freien Lohnarbeiter. Sie erhalten keinen Lohn für ihre Arbeitszeit, sie dürfen lediglich den Grund bearbeiten und schulden ihrem Grundherren Abgaben (Naturalien, Geld) und Frondienste (Arbeitsdienste auf den Feldern des Grundherren, beim Burgenbau usw.) im Gegenzug für Schutz und Unterstützung in Notzeiten. Auch die Bezeichnung unfrei kommt nicht von ungefähr: Diese Bauern können das von ihnen bearbeitete Land nicht nach Belieben verlassen, sie gehören gewissermaßen zu dem Boden, den sie bearbeiten. Wird ein Lehen weitergegeben, gehen auch die Bauern automatisch an den neuen Grundherren über.

Der Weg zum Kapitalismus
Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus war kein schlagartiger (auch wenn der Begriff Industrielle Revolution das suggeriert), sondern vielmehr ein langsamer und regional unterschiedlich verlaufender Prozess. Fest steht, dass die Industrialisierung die entscheidenden Veränderungen ermöglichte, die den Weg zu unserem modernen Kapitalismus ebneten:
Die Landwirtschaft verlor zunehmend an Bedeutung, immer mehr Menschen waren als Arbeiter in Fabriken und Industriebetrieben tätig. Verkehrstechnologische Innovationen ermöglichten einen schnelleren und effizienten Transport von Rohstoffen und Waren, neue Energiequellen wie Kohle und Elektrizität bislang unmögliche Formen und Ausmaße der Produktion. Das gemeinsame Ziel von Unternehmern und Investoren war dabei das Streben nach Gewinn.
Kurz: Die kapitalistische Produktionsweise setzte sich zunehmend durch – und verbreitete sich von Europa aus auf der ganzen Welt.

Dabei gab und gibt es, wie wir bereits festgestellt haben, unterschiedliche Ausprägungen kapitalistischer Wirtschaftsformen die sich bis heute ständig verändern und entwickeln.
Und es gibt natürlich auch moderne Alternativmodelle, wie etwa jenes der sozialistischen Planwirtschaft, ein System das sich allerdings in der Praxis letztlich nur bedingt bewährte. „Dem Kapitalismus wohnt ein Laster inne: Die ungleiche Verteilung der Güter. Dem Sozialismus hingegen wohnt eine Tugend inne: Die gleichmäßige Verteilung des Elends.“, soll etwa Winston Churchill dazu bemerkt haben.

Kritik und Zukunftsprognosen
Bereits seit seinem Aufkommen im 19. Jahrhundert wurde der Kapitalismus immer wieder heftig kritisiert. Kapitalismusgegner und Kapitalismuskritik sind keine neuen Erscheinungen im 21. Jahrhundert. Ungleichheit (zwischen Besitzenden und Lohnarbeitern, durch globale Arbeitsteilung), Ausbeutung der Arbeiter, soziale Unsicherheit, Verlust von Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt (durch beständige Konkurrenz), Umweltzerstörung (durch rücksichtsloses Gewinnstreben) – wird und wurde ihm angekreidet. Andere wiederum sehen vermehrten Wohlstand, persönliche Freiheit oder fortwährende Innovationen (auf Grund von Konkurrenz und Gewinnstreben) als positive Aspekte dieses Systems.
Auch die Prognosen darüber, wie es mit kapitalistischen Systemen weitergehen kann, soll und wird, sind vielfältig und höchst unterschiedlich. Fest steht aber: Noch leben wir alle damit – ob es uns gefällt oder nicht.
Um also sowohl unser Leben als auch die unzähligen Kapitalismus-Diskussionen besser verstehen zu können, scheint es nicht verkehrt, einmal nachgefragt zu haben, was das eigentlich ist, der Kapitalismus.

Literatur zum Thema:

  • Jürgen Kromphardt, Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus. (Göttingen 2004).
  • Johannes Berger, Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik. (Wiesbaden 2014).
  • Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus. (München 2013).
Martina Nothnagel