Große Schuld, wenig Sühne? Zur Entnazifizierung in Österreich

Heuer, 2018, jährt sich der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland zum 80sten Mal. Sieben Jahre später war ein weiterer Weltkrieg vorüber. Das NS-Regime war gestürzt, die Hakenkreuz-Banner verschwunden, die zugehörigen Ideologien aber waren weniger leicht zu demontieren. Noch heute, 80 Jahre später, kommt man um die Einsicht nicht herum: Das braune Gedankengut ist zäh. Ein guter Grund, sich die Frage zu stellen: Was geschah eigentlich danach? Wie ging man um mit Tätern, Schuldigen und Nutznießern des Nazi-Regimes? Kurz: Wie sah eine Entnazifizierung in Österreich aus?

Ende und Neuanfang
Im Frühling 1945 geht in Europa ein Albtraum zu Ende. Der Albtraum eines weiteren Weltkrieges, der Albtraum der Nazi-Diktatur. Das nationalsozialistische Regime ist gestürzt, aus ehemals deutschen Reichsgauen wird die Republik Österreich.
Bevölkerung und alliierte Siegermächte stehen nicht nur vor einem Land in Trümmern, sie stehen auch vor der Aufgabe, den Nationalsozialismus ein für alle Mal auszumerzen. Es geht um Schuld und Sühne. Um Ende und Neuanfang. Sollte um Aufarbeitung gehen.
Mit dem Ausschalten der Führungsspitze des NS-Regimes ist es dabei nicht getan. Nationalsozialistische Ideologien und Strukturen durchziehen das gesamte Land, die gesamte Gesellschaft. Es geht nicht nur um Nazi-Größen wie Hitler, Göring oder Himmler. Es geht auch um Tausende von Parteimitgliedern, Mitarbeitern, Mitläufern und Nutznießern – um kleine Rädchen, ohne die die Mühlen des Regimes dennoch nie gemahlen hätten.

Die sogenannte Entnazifizierung – d.h. Nationalsozialisten und Akteure des Regimes zu identifizieren und für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen – war nicht nur Sache der Alliierten, sondern vor allem auch eine zentrale Aufgabe der blutjungen österreichischen Regierung.
Nationalsozialisten, heißt es dementsprechend in einer Regierungserklärung vom April 1945, sollen „auf keine Milde rechnen können.“ Die selbe Erklärung macht aber auch deutlich, dass all jene „die nur aus Willensschwäche, infolge ihrer wirtschaftlichen Lage, aus zwingenden öffentlichen Rücksichten wider innere Überzeugung“ gehandelt hätten – sprich stille Dulder und Wegseher – „nichts zu befürchten“ hätten.
Andernfalls hätte allerdings auch die Mehrheit der Bevölkerung als mitschuldig gelten und zur Verantwortung gezogen werden müssen: Auch wenn Tausende deportiert, in Konzentrationslager verschleppt oder im Kampf gegen das Regime hingerichtet wurden, der Großteil der österreichischen Bevölkerung akzeptierte die NS-Herrschaft klaglos. Unterstützte das Regime aktiv, oder zumindest durch stillschweigende Duldung.

Erste Schritte
Auch trotz der versprochenen Nachsicht glich die Entnazifizierung einer Herkulesaufgabe. Eine Aufgabe, die die provisorische Regierung (gewählt wurde erst im November 1945) mit dem Erlass zweier Gesetze in Angriff nahm: Noch im Mai 1945 wurden das sogenannte Kriegsverbrecher- und Verbotsgesetz erlassen. Letzteres verbot – wie der Name schon sagt – die NSDAP und definierte außerdem, wer „sühnepflichtig“ war und wie Strafen und Sühne auszusehen hatten.
Dazu mussten allerdings erst einmal alle „Sühnepflichtigen“ – also Mitglieder der NSDAP, aber auch von Wehrmachtsverbänden wie Schutzstaffel (SS) oder Sturmabteilung (SA) – erfasst werden. Was also tun? Die Lösung versprach eine Registrierungspflicht. Alle, die gemäß dieser Gesetze als schuldig galten, waren dazu verpflichtet sich selbstständig zu registrieren. Wer das verabsäumte, musste damit rechnen denunziert und angezeigt zu werden. Bis 1946 wurden auf diese Weise 536 000 Personen als Nationalsozialisten registriert. (Etwa 30 000 davon flüchteten in Folge ins Ausland.)

Abgesehen von Kriegsverbrechern waren besonders strenge Strafen vor allem für sogenannte Illegale vorgesehen. Also für Männer und Frauen, die schon zwischen 1933 und 1938 Mitglieder der NSDAP gewesen waren, einer Zeit in der die Partei im austrofaschistischen Ständestaat verboten gewesen war. Sie, so die Argumentation, konnten keinesfalls bloße Mitläufer gewesen sein, sondern galten als überzeugte Nationalsozialisten und Hochverräter. Solche Illegalen machten immerhin 18,3 Prozent der registrierten Nationalsozialisten aus.
Die sie theoretisch erwartenden drakonischen Strafen wurden in der Praxis letztlich aber kaum umgesetzt. Zwischen 1945 und 1955 wurde 43 Mal die Todesstrafe verhängt, 37 Mal wurde sie auch vollzogen. 27 Personen wurden zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt.

Persil-weiße Westen
Aber zurück ins Jahr 1946: Über eine halbe Million Nationalsozialisten waren nun also erfasst. Und man musste erkennen, dass das Verbotsgesetz – so vielversprechend es auf dem Papier auch klang – in der Praxis letztlich nicht umsetzbar war. Tatsächlich verfehlte es die beabsichtigte Wirkung fatal.
Das Gesetz ermöglichte es nämlich jedem bzw. jeder, gegen eine Registrierung Einspruch zu erheben und den individuellen Fall in letzter Instanz von einer Beschwerdekommission prüfen zu lassen. Das Ausmaß der Einsprüche aber hatte man katastrophal unterschätzt: Fast 90 % der 536 000 registrierten Nationalsozialisten nahmen dieses Recht in Anspruch. Tausende Nationalsozialisten waren plötzlich nie welche gewesen, und wenn doch, dann hatten sie ihre Parteimitgliedschaft „niemals missbraucht“. Mit einem Mal sprach man mehr über angeblich „gute Taten“ einzelner Nazis, als über deren Verbrechen.
Zahllose Nationalsozialisten verfügten plötzlich über ausgezeichnete Leumundszeugnisse. Von Unbescholtenen und nicht selten sogar von Opfern des Nazi-Regimes unterzeichnete Schreiben attestierten ihnen eine „weiße Weste“ – weshalb diese Dokumente im Volksmund auch Persilscheine genannt wurden.
Diese Flut an Einsprüchen und Gnadengesuchen machten das Verbotsgesetz undurchführbar (90 Prozent von 536 000 machen immerhin 482 400 Gnadengesuche). Es fehlte schlicht an Ressourcen.
Aber auch die Stimmung in der Bevölkerung schlug immer mehr um. Anstatt der Forderung nach Gerechtigkeit und Sühne, dominierte nun Mitleid mit den „armen kleinen Nazis“, die für die Verbrechen des Regimes büßen sollten. 

Belastete und weniger Belastete
Die Regierungsparteien – d.h. Kommunistische Partei (KPÖ), Sozialdemokratische Partei (SPÖ) und Volkspartei (ÖVP) – erarbeiteten daher noch im Jahr 1946 ein neues Gesetz: Einfache Mitglieder der NSDAP waren nun gänzlich von der Registrierungspflicht befreit. Bei den verbleibenden Registrierten wurden zwischen „Belasteten“ und „Minderbelasteten“ unterschieden. Belastet waren höhere NS-Funktionäre, Angehörige der SS und der Gestapo oder nach dem Kriegsverbrechergesetz Verurteilte. Alle übrigen Registrierten galten als minderbelastet. Ihnen drohten Geldstrafen, Entlassungen, der Verlust des Wahlrechts oder Berufsverbot.

Kein Interesse
Aber auch diese Minderbelasteten – oder Mitläufer, wie sie auch bezeichnet wurden – sollten möglichst schnell wieder in die Gesellschaft integriert werden. Sprich, man wollte rasch mit deren Vergangenheit abschließen, wollte sie wieder zu „normalen“ österreichischen StaatsbürgerInnen machen.
Von einer Befreiung Österreichs und einer nötigen Entnazifizierung war nicht länger die Rede. Die entsprechenden Gesetze wurden als Diktat der Alliierten empfunden. Als wichtigstes Ziel galt der Wiederaufbau. Dort sollte alle Kraft hineingesteckt werden, die Entnazifizierung war bloß ein nachrangiges Problem.
Ein Problem, das dem Wiederaufbau außerdem nicht im Weg stehen sollte: Man brauchte dringend alle verfügbaren Arbeiter, alle vorhandenen Fachkräfte. Warum also sie mit einem Berufsverbot belegen?

Dazu kommt, dass das nationalsozialistische Regime nicht nur Traumata und Zerstörung, sondern auch ideologische Spuren hinterlassen hatte. Die vom Nationalsozialismus propagierten rassistischen und antisemitischen Vorurteile verschwanden nicht gleichsam über Nacht. Sie ließen sich nicht einfach ablegen wie Uniformen und Hakenkreuzbinden. Sie hatten sich eingenistet in den Köpfen der Menschen – und nisten dort zum Teil noch heute.

Eine wenig konsequent umgesetzte Entnazifizierung, eine Verharmlosung von Verbrechen der Vergangenheit, lag aber auch im Interesse der österreichischen Politik bzw. Parteien. Waren ehemalige Nationalsozialisten bei der ersten Nationalratswahl 1945 noch von der Wahl ausgeschlossen gewesen, begann nun, im Hinblick auf die 1949 anstehenden Neuwahlen, das Ringen um diese – zahlenmäßig keineswegs unbedeutenden – Wählerstimmen.

Amnestien
Also erließ man Amnestien. Noch 1948 wurde zunächst eine Amnestie für Jugendliche (für alle Jahrgänge ab 1919) erlassen. Alle Minderbelasteten – etwa 90 Prozent der registrierten Nationalsozialisten – wurden etwas später im selben Jahr durch eine „Minderbelastetenamnestie“ ebenfalls aus ihrer Sühnepflicht entlassen. Auch sie waren damit sozial, politisch und wirtschaftlich wieder „ganz normale“ Staatsbürger. Die Entnazifizierung als Massenmaßnahme war damit zu Ende.

1957 wurde dann der endgültige Schlussstrich gezogen. Die generelle NS-Amnestie beendete alle noch laufenden Strafen und Strafverfahren. (Immerhin hatte der Staat bis dahin über 300 Millionen Schilling an „Sühnezahlungen“ eingenommen.) Nun waren alle wieder gleich, alle waren gute Österreicher, egal wie ihre Vergangenheit ausgesehen hatte.

Das Mäntelchen des Vergessens
Eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Österreichs wurde nie abgeschlossen. Wenige TäterInnen wurden tatsächlich verurteilt, tausende MitläuferInnen wurden letztlich aus der Verantwortung entlassen. Der österreichischen Bevölkerung, aber auch österreichischen Politikern kam überaus gelegen, Österreich als Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren.
Hätte es etwas geändert, wenn die Entnazifizierung anders verlaufen wäre? Das kann niemand wirklich beantworten. Vielleicht wäre die Situation heute nicht besser. Denn gut ist sie ganz und gar nicht. Fragwürdige Burschenschaften, Identitäre als hippe Neo-Nazis – es braucht nicht viel um zu erkennen: Das nationalsozialistische Gedankengut in all seiner Menschenverachtung und Verquertheit ist auch heute noch quicklebendig.

Lektüre zum Thema:

  • www.entnazifizierung.at
  • Dieter Stiefel. Entnazifizierung in Österreich. (Wien 1981).
  • Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. (Wien 2014).

 

 

 

Martina Nothnagel