Zum spätmodernen Paradigma der Arbeit Ein Versuch einer kritischen Reflexion

Belastung oder Bereicherung, Plage oder Erfüllung – das Spektrum, wie wir Arbeit heute erleben ist weit. Fest steht: Sie dominiert unser aller Leben. Beherrscht ganz selbstverständlich unser Dasein. Der Versuch einer kritischen Reflexion des Wesens und der Geschichte eines Paradigmas.

Wenn ich frühmorgens in der U-Bahn sitze beobachte ich gerne andere Fahrgäste. Die Frau im schicken Businesskostüm, der ältere Herr im Blaumann. Wohin sie wohl fahren, wo sie wohl arbeiten? Freuen sie sich auf den Arbeitstag der vor ihnen liegt? Oder graut ihnen davor, können Sie es kaum erwarten die Arbeitszeit heruntergebogen zu haben?

Die Arbeit, der Job – eine janusgesichtige Angelegenheit. Sie kann lästige Pflicht, mühsame Qual oder Bereicherung, Selbstverwirklichung und Lebensinhalt sein. Irgendwo zwischen diesen beiden Polen finden wir uns irgendwann alle wieder.
Das gemeinhin als erstrebenswert geltende Ideal ist dabei ganz klar letzteres, auf jeden Fall zumindest, wenn man von den sogenannten westlichen Gesellschaften spricht. Du sollst nicht nur Arbeit haben (um ein produktives, steuerzahlendes, konsumierendes Mitglied der Gesellschaft zu sein). Du sollst auch erfolgreich sein, sollst emsig und ehrgeizig sein, sollst dabei außerdem deine Erfüllung und deinen Lebenssinn (zumindest zu einem großen Teil) in deinem Job finden und dich dabei selbstverwirklichen.
Aber egal, ob wir dieses Ideal erreichen, ihm hinterher hecheln, oder vielleicht doch darauf pfeifen. Vor dem Paradigma der Arbeit gibt kaum ein Entkommen:
Arbeit nimmt einen Großteil unserer Lebenszeit ein, bestimmt unser Leben, unsere Zeit- und Lebenszeiteinteilung. Wir verbringen unser Leben mit der Arbeit, mit der Vorbereitung darauf (Schule und Ausbildung), mit Pausen davon (Feierabend, Wochenende, Urlaub, Rente, Karenz – definiert durch Gründe des Nicht-Arbeitens) oder im Kampf gegen ihre Abwesenheit (Arbeitslosigkeit).

Zufriedenheit verspricht eine optimierte Work-Life-Balance. Wie wir diese erreichen können, ist in Unmengen an Ratgebern nachzulesen. Dabei schwappt work allerdings immer mehr in den life-Bereich über. Immer mehr Lebensbereiche werden ökonomisiert, wir arbeiten immer mehr – auch außerhalb des Jobs. Neben der Erwerbsarbeit leisten wir heute Elternarbeit, Beziehungsarbeit oder Trauerarbeit, betreiben Workouts und Networking. Soll eine Tätigkeit wert- und bedeutungsvoll sein, muss es offenbar, auch dem Namen nach, Arbeit sein.

Glück und Unglück der Arbeit
Irgendwie soll auch unsere Erwerbsarbeit zu unserem Lebensglück beitragen. Ein legitimier Wunsch, angesichts dessen wie viel Zeit sie in unserem Leben einnimmt. Vielleicht ist es erhellend, dieses Glückversprechen etwas differenzierter zu betrachten.
Da ist zunächst das simple Glück Arbeit zu haben. Dass Arbeitslosigkeit unglücklich macht ist belegt, allein schon die hohe Rate an Depressionserkrankungen von Arbeitssuchenden spricht für sich.
Hat man Arbeit, lassen sich grob drei Wege beschreiben, die – jeder für sich oder auch alle zusammen –  Glück durch Erwerbsarbeit ermöglichen sollten.
Erstens der Inhalt: Spaß an der Arbeit, Freude an der Tätigkeit, persönliche Entfaltung und Selbstverwirklichung versprechen eine Bereicherung des Lebens durch Arbeit.
Zweitens das Gehalt: Das verdiente Geld verheißt Glück durch Konsum. Der Lohn ermöglicht die Erfüllung der Versprechungen der Konsumgesellschaft.
Drittens soziales Prestige: Ist die Arbeit eine gesellschaftlich (hoch) geschätzte, wird auch mir als Person gesellschaftliche Wertschätzung zuteil. Auch der damit einhergehende soziale Status vermag glücklich zu machen.

Die Rolle der Gesellschaft
Wer von uns kann stets genau zwischen persönlichem Bedürfnis und gesellschaftlich suggerierten Erwartungen unterscheiden? Nicht nur unsere eigenen Ansprüche an die Arbeit sind beachtlich, auch die von der Gesellschaft an uns vermittelten Erwartungen, was wir in unserer Arbeit leisten und finden sollen sind hoch. Ist nicht Selbstverwirklichung durch Arbeit, Arbeit als elementare Quelle von Sinn und Identität zu einem „institutionalisierten Erwartungsmuster“ geworden?

Aber: Oft sind wir in der Realität diesen Anforderungen nicht gewachsen. Oft ist die Realität unseren Anforderungen nicht gewachsen.
Können wir keine Arbeit vorweisen, die diesen Ansprüchen genügt, zweifeln wir an uns selbst, verzweifeln an Unterforderung, Überforderung oder dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen. Burn-Out, Bore-Out und Depressionen sind im Vormarsch. Wir arbeiten uns kaputt, wir langweilen uns kaputt, wir zerbrechen im Karriere-Hamsterrad oder nehmen zumindest allzu oft Schaden beim Hinterherlaufen dieser Ideale.
Für – sozial gewertschätzen – hedonistischen Müßiggang ist kein Platz in unserer Leistungsgesellschaft. Wer nicht ausreichend beschäftigt und dabei hinreichend gestresst ist, dem droht das Stigmata der Faulheit.

Damals und heute
Aber: Das alles war nicht immer so. Was wir heute so selbstverständlich leben, ist ein relativ junges Phänomen in unserer Geschichte. Es ist nur eine historische Variation eines alten Themas. Was gemeinhin unter ‚Arbeit’ oder ‚Produktivität‘ verstanden wird, war je nach Epoche sehr unterschiedlich.

Was unsere jagenden und sammelnden Vorfahren im Neolithikum unter Arbeit verstanden, oder was sie davon hielten, können wir nicht mehr nachvollziehen. (Sie kannten keine Schrift und damit sind ihre Gedanken nicht überliefert.) Wo heute aber vielfach sogar 40 Stunden Jobs nicht reichen um das Auskommen zu sichern, war damals deutlich weniger Zeitaufwand nötig. Wie Berechnungen einiger Forscher ergaben, brauchten unsere Vorfahren in der Steinzeit etwa 20 Stunden pro Woche um die Versorgung sicher zu stellen.

Für viele Jahrhunderte aber ist historisch klar belegt: Arbeit, das war (meinst körperliche) Plagerei, ein mühseliger Zwang, der wenig geschätzten Mitgliedern der Gesellschaft überlassen wurde. Sklaven und Knechte arbeiteten, freie Bürger hatten dies nicht nötig.
Gilt heute ständiges gestresst sein und ein rasches, geschicktes Erklimmen der Karriereleiter als erstrebenswert, so war das in der griechischen Antike völlig anders. Soziales Ansehen, dem Status als freier Bürger entsprechend, genoss gerade das Nicht-arbeiten-müssen. Die höchste Form des Zeitvertreibs war die Muße, man war politisch tätig, bildete sich und widmete sich intellektuellen Betrachtungen. Hand- und Lohnarbeit, also die Produktion des zum Leben Nötigen, war eine verächtlich betrachtete Tätigkeit. Dieses Schicksal war Sklaven, Frauen und Handwerkern vorbehalten.

Auch im europäischen Mittelalter galt: Hatte man nicht das Pech als Sklave oder Knecht geboren zu werden, sollte Arbeit tunlichst vermieden werden. Die Muße, die vita contemplativa, war die sozial bei weitem höher geschätzte Art seine Zeit zu verbringen.

Die Ursprünge unseres heutigen Arbeitsbegriffes, unseres modernen Verständnisses davon was Arbeit ist, liegen erst 18. und 19. Jahrhundert. Vieles änderte sich im 18. Jahrhundert im Zuge der Reformation. Der Ethik des Protestantismus gemäß ist Müßiggang sündhafte Zeitvergeudung. Zeit die nicht effizient, zur Ertragssteigerung oder zur Vermehrung von Reichtum durch Arbeit genützt wird, ist suspekte Zeitverschwendung.

Die zunehmende Industrialisierung im 19. Jahrhundert, der sich durchsetzende Kapitalismus als Prinzip wirtschaftlichen Lebens (Entwicklungen, die einen eigenen Text verdient haben) führen dazu, dass Arbeit nun gemeinhin Erwerbsarbeit meint, sie soll Quelle von Reichtum, Eigentum und der Kern menschlicher Existenz sein.
Die Arbeitsbedingungen waren dabei alles andere als rosig. 80 Arbeitsstunden pro Woche, Löhne am Existenzminimum, Kinderarbeit – was im 19. Jahrhundert Alltag war, ist heute für uns EuropäerInnen kaum vorstellbar. Vieles hat sich seither verbessert, viel wurde erreicht um Arbeitnehmer zu schützen und ihre Rechte zu sichern. Aber: In letzter Zeit sind alarmierende Entwicklungen beobachten. So manche der erreichten Standards drohen nun wieder verloren zu gehen: Rasante technologische Entwicklung, Beschleunigung aller Bereiche des menschlichen Lebens,  zunehmende Individualisierung, Etablierung einer beinharten Leistungsgesellschaft, zunehmende Dominanz eines Finanzkapitalismus – etwa seit den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (mit dem Beginn der sogenannten Spätmoderne) veränderte sich unsere Lebenswelt und Lebensumstände ein weiteres Mal enorm. Und damit auch unsere Arbeitswelt. Soziale Sicherungssysteme erodieren, die überschaubare Struktur und soziale Ordnung der Arbeitswelt löst sich immer mehr auf, Arbeitsverhältnisse werden immer prekärer, die Anforderungen immer höher und diverser.

Das spätmoderne Paradigma der Arbeit hat sich durchgesetzt: Du sollst deine Lebenszeit optimal nutzen, sollst unablässig ausgezeichnete Leistung erbringen. Immerzu sollst du motiviert sein. Sollst dich Selbstverwirklichen durch deine Arbeit. Sollst den gesellschaftlichen Werten und Normen entsprechen, auch unter der Schwierigkeit, dass einer dieser Werte ist, innovativ und besonders zu sein. Scheiterst du kolossal, wenn du erkennst „Das geht sich alles nicht aus!“ – dann darfst du ins Burn-Out gehen.

Ausblick?
Als Historikerin ist es extrem spannend zu sehen, wie sich dies alles in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln wird. Als Arbeitende, nun ja, da verfolge ich so manches mit Sorge. Werden sich, wie vielfach gefordert, neue kulturelle Leitbilder entwickeln und durchsetzen, um das omnipräsente Paradigma der Arbeit abzulösen? Wie wir mit Anforderungen und Erwartungen umgehen, wie wir unsere Möglichkeiten nützen, wie wir versuchen diese Möglichkeiten zu gestalten – das muss jedem selbst überlassen bleiben. Es kann aber wohl nicht schaden etwas Reflexionsarbeit zu leisten und dabei vielleicht sogar auch ein bisschen Entspannungsarbeit unterzubringen.

Lektüre zum Thema:

  • Joachim Bauer, Arbeit. Warum sie und glücklich oder krank macht. (München 2105).
  • Jürgen Kocka, Arbeit früher, heute, morgen: Zur Neuartigkeit der Gegenwart. In: Jügen Kocka/Claus Offe (Hrsg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. (Frankfurt am Main 200), 476–493.
  • Komlosy Andrea, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert. (Wien 2014).

 

Martina Nothnagel