Schneller, schneller und immer noch zu langsam? Historische Überlegungen zur Zeit

Sie läuft uns davon, wir hecheln hinterher. Schneller, schneller, optimierter, produktiver! Sie ist das omnipräsente Damoklesschwert über unseren Köpfen: Die Zeit.

Was wir dabei aber meist übersehen: Zeit hat allein jene Bedeutung, die wir ihr geben. Unser stetes Hetzen ist kein Naturgesetz, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt. Früher waren die Zeiten im Wortsinn andere.

Beschleunigung
Worte wie Zeitmanagement, Zeitbudget, zeitliche Ressourcen; omnipräsente Uhren und Terminkalender; Zeitmangel und Stress als Normalzustand; Effizienz als allererstes Ziel. – Es braucht nicht viel, um zu erkennen, wie sehr Zeit unser Denken bestimmt. Wie sehr sie unseren Alltag dominiert. Wie sehr der Sog einer immer rasenderen Beschleunigung uns im 21. Jahrhundert erfasst hat.

Zeit ist nicht nur eine naturwissenschaftliche Maßeinheit, sie ist auch ein soziales Konstrukt. Die Frage die uns hier interessiert, hat nichts mit Physik oder Astronomie zu tun, sondern mit Menschen und Gesellschaft. Immer wieder wird eine rasante Beschleunigung sämtlicher Lebensbereiche als zentrales Charakteristikum, ja als zentrale Pathologie unserer Gegenwartsgesellschaft beschrieben. Aber, war früher tatsächlich alles langsamer? Wie wurde Zeit früher wahrgenommen, welche Bedeutung wurde ihr beigemessen? Das sind die Fragen um die es hier gehen soll. Fragen, die es vielleicht ermöglichen, auch unsere rasende Gegenwart mit anderen Augen zu betrachten.

Das zyklische Rad der Zeit
Unser modernes Konzept von Zeit (das wir im Alltag kaum bewusst wahrnehmen oder hinterfragen) ist im Grunde simpel. Für uns ist Zeit linear; eine Gerade, von der Vergangenheit über die Gegenwart geradewegs in die Zukunft verlaufend; stets an Fortschritt, Wachstum und Entwicklung orientiert.
Eine Vorstellung, die allerdings keineswegs selbstverständlich ist. Für die Menschen des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit etwa, war Zeit etwas Zyklisches und Periodisches. In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft und damit in enger Verbindung und Abhängigkeit von der Natur lebte, bestimmten auch Natur und Umwelt über Lebensrhythmus und Zeit der Menschen. Tageslicht und Dunkelheit gaben die Arbeitszeiten vor (elektrisches Licht gab es nicht, Kerzenwachs war teuer). Die Jahreszeiten definierten Art und Ausmaß der Arbeit. Im Frühling die Aussaat, im Sommer die Ernte. Ein zyklischer Rhythmus der sich stets wiederholte – und der allein in Gottes Hand lag. Für die Menschen des Mittelalters war alles Sein Teil eines von Gott bestimmten zyklischen Ablaufs. Auch der Tod war nicht zwingend ein Endpunkt, die Hoffnung und der Glaube an ein ewiges Leben nach dem Tod verlängerten das eigene Sein in die Unendlichkeit.

Zeit war folglich kein relevanter oder gar bestimmender Faktor im Alltag. Es gab keine Termine zu managen, kein Hetzen um ein paar Minuten zu gewinnen.
Was zählte waren Jahrzeiten, nicht Jahreszahlen. Noch bis ins 17. Jahrhundert war es nicht ungewöhnlich, weder sein Geburtsjahr noch sein Alter zu kennen. Kaum vorstellbar in unserer modernen Gesellschaft, in der dem Alter, der Aufrechnung der vergangenen Lebensjahre, derart große Bedeutung beigemessen wird.

Der Takt der Stunde
Ebenso wenig vorstellbar mag vielen die Abwesenheit einer ständig präsenten Zeitmessung erscheinen, die das Leben in Stunden, Minuten und Sekunden zerhackt. Bis ins späte Mittelalter aber waren Uhren in Europa ein seltenes und im Alltag unbedeutendes Phänomen.
Erst durch öffentliche Uhren, angebracht an prominenten Plätzen (wie etwa Türmen) und meist mit einem Stundenschlagwerk versehen, drängte sich die Zeit unweigerlich immer mehr in das Bewusstsein und das Leben der Menschen. Ausgehend von oberitalienischen Städten wie Orvieto, Mailand und Padua verbreiteten sich (vermutlich im 13. Jahrhundert erfundene) mechanische Uhren im Laufe des 14. Jahrhunderts in ganz Europa. Zunächst in Städten, später auch in Klöstern und wohlhabenden Dörfern, wurden sie – für alle sicht- und hörbar – zunehmend Teil des Alltages. Mit den omnipräsenten Uhren erfasst auch der Takt der Zeit immer mehr die gesamte Gesellschaft.

Fortschritt anstatt göttlicher Zyklen
Die tatsächliche Geburtsstunde unseres heutigen Verständnisses von Zeit aber liegt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine Zeit, in der sich das Verständnis der Welt ebenso radikal veränderte wie das Leben in dieser Welt.

Zeit wurde nunmehr nicht länger als gottgegebener Zyklus gedacht. Nicht mehr Gott, sondern der Mensch selbst wird nun als Herr seines Lebens, seines Handelns – und seiner Zeit – angesehen. Das Handeln in der Gegenwart entscheidet über die Zukunft – des Einzelnen wie auch der Gesellschaft. In diesem neuen, aufgeklärten Weltbild bestimmen nicht länger immer wiederkehrende Zyklen, sondern Fortschritt und Wachstum den linearen Verlauf der Zeit.

Zeit ist Geld
Endgültig zementiert wurde das rigide Regime der Zeit durch drastische Veränderung der Lebens- und Arbeitswelt am Übergang zum 19. Jahrhundert: Im Zuge der zunehmenden Industrialisierung verdienten immer mehr Menschen ihren Lebensunterhalt durch die Arbeit in Fabriken und Industrie.
Die Arbeit am Fließband, die präzise Aufteilung der Arbeitsprozesse erforderte ein rigides Timing der Arbeitsschritte. Nicht landwirtschaftliche Zyklen, sondern Arbeitszeiten in der Fabrik bestimmen nun den Lebensrhythmus. Die Arbeitszeit definiert Arbeitstage und Arbeitswochen. Die Arbeitsstunde wird zum Maß des Alltags, zum Takt des Lebens.
Zeit ist nun Geld. Spart man Zeit, spart man Geld (oder genauer: Sparen die Arbeiter Zeit, spart der Arbeitgeber Geld). Damit gilt für alle Arbeiter, seien es Männer, Frauen oder Kinder: Schneller, schneller, effizienter. (Dabei leistete, Schätzungen zufolge, ein Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts nahezu doppelt so viele Arbeitsstunden wie ein durchschnittlicher Bauer im Mittelalter.)

Rasende Gegenwart
Damit sind die Weichen dafür gestellt, wie wir Zeit heute leben.
Zeit ist heute ganz selbstverständlich linear und progressiv. Entwicklung, Wachstum und Fortschritt sind imperativ für Individuen, Gesellschaft und Wirtschaft. Regression oder Stagnation gelten als Misserfolg, als Versagen. Effizienz – mehr und mehr, schneller und schneller –  ist das Credo des 20. und 21. Jahrhunderts. Zeit ist knapp. Zeit ist Geld. Sie ist, so scheint es, das Korsett, in das wir unser Leben zwängen.

Zugleich gibt es aber, im Angesicht und im Bewusstsein dieses Phänomens, auch Versuche der Entschleunigung. (Man denke etwa an Fast-Food vs. Slow-Food). Derartige Maßnahmen mögen einigen etwas Frieden verschaffen, unsere Gesellschaft als solche aber entschleunigen sie nicht.

Schnell noch zum Schluss …
Zeit ist wohl eines unserer kostbarsten Güter. Denn: Sie ist endlich. Und zwar unweigerlich und für jeden von uns, egal was wir damit anfangen. Egal ob wir hetzen oder trödeln, ob wir effizient oder langsam sind. Egal wie hart wir mit uns in der Frage, wie gut wir sie nützen, ins Gericht gehen.

Zum Abschluss außerdem – ganz schnell – noch ein kleiner Exkurs: Die Gegenwart dauert etwa 0,027 Sekunden. Das ist die kürzeste Dauer in der zwei Wahrnehmungen (Berührungsreize) noch als getrennt empfunden werden können. (Und sagt nicht allein die Tatsache, dass wir das wissen schon genug?)

Lektüre zum Thema:

  • Angela Schwarz, Wie uns die Stunde schlägt. Zeitbewußtsein und Zeiterfahrungen im Industriezeitalter als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 83 (2001), 451-479.
  • Karlheinz Geißler, Die Zeiten ändern sich – mit Folgen. In: Ulrike Lehmkuhl (Hrsg.), Die Bedeutung der Zeit. Zeiterleben und Zeiterfahrung aus Sicht der Individualpsychologie. (Göttingen 2005).
  • Achim Landwehr (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution. (Bielefeld 2012).
Martina Nothnagel